Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 12/2008, 365-372

Hans Thüsing, Das Markus-Evangelium als Buch

Am Ersten Adventsonntag hat das neue Lesejahr B mit den Lesungen aus dem Markus-Evangelium begonnen. Das nehme ich zum Anlass, das Markus-Evangelium einmal als ein Ganzes zu betrachten, als ein zusammenhängendes Buch. Es ist ja nicht die Regel und auch nicht selbstverständlich und nach aller Gewohnheit auch nicht sehr naheliegend, die Evangelienbücher als Einheit zu betrachten. Das hat viele Gründe.

In der Regel werden die Texte aus den Evangelien im Gottesdienst der Kirche gehört und unabhängig von ihrer Stellung und besonderen Bedeutung im Buch als einzelne Stücke wahrgenommen. Sie sind aus dem Zusammenhang herausgeschnitten; das aus dem Griechischen stammende Wort Perikope bedeutet genau dies. Darum ist es nicht leicht, auch nicht beim sehr aufmerksamen Hören auf das Wort Gottes, an den Sonn- und Feiertagen im Laufe eines Kirchenjahres einen Eindruck vom Gesamtcharakter eines Evangeliums zu gewinnen.

Das erscheint mir vor allem im Hinblick auf das Markus-Evangelium von Bedeutung, das ein kunstvoll aufgebautes, mit überzeugender Einfachheit gegliedertes und in vieler Hinsicht sehr überlegt formuliertes Werk ist, ein Glaubensbuch, das erste der Christenheit. Denn es ist aus diesem Grund von größtem Wert, wahrzunehmen, wie darin die Akzente gesetzt werden und was dort als hauptwichtig dargestellt wird.

Durch lange Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts galt das wissenschaftliche Interesse bei der Erforschung der Evangelien und damit auch des Markus-Evangeliums vorwiegend den Einzelüberlieferungen. Wie bei der Betrachtung eines vielschichtigen Objekts durch das Mikroskop bei der Scharfeinstellung jeweils nur eine einzige Schicht klar und genau im Bild erscheint, die anderen aber undeutlich, so geht es auch bei der wissenschaftlichen Betrachtung. Zweifellos verdanken wir diesen Bemühungen und Untersuchungen wichtige Erkenntnisse. Zugleich aber wurde dabei in dieser Zeit die Betrachtung des Markus-Evangeliums als eines einheitlichen Buches vernachlässigt. Das hat sich mittlerweile geändert.

Das Markus-Evangelium als ein ganzes und ein besonderes Buch wahrzunehmen, wird auch durch den Umstand erschwert, dass man es in der Regel mit anderen Büchern zusammen abgedruckt findet, als eines unter vielen in der ganzen Bibel oder aber auch nur im Neuen Testament.. Damit wird zu Recht die Zusammengehörigkeit der Heiligen Schriften zum Ausdruck gebracht. Aber die Selbständigkeit des einzelnen Buches kommt nicht genügend zum Vorschein.

Auch die Reihenfolge der Evangelien ist ungünstig für die Wahrnehmung der herausragenden Bedeutung des Markusevangeliums. Dass das Matthäus-Evangelium an erster Stelle steht, hat zwar gute Gründe, denn es bringt z.B. die Bergpredigt und viele Gleichnisse, die Markus nicht überliefert. Es mindert aber die Bedeutung des Markus-Evangeliums, das doch zeitlich früher entstand und nach überwiegender Meinung den andern zugrundeliegt.

Es besteht auch die Gefahr, und sie ist tatsächlich nicht gering, dass besonders die drei synoptischen Evangelien wegen ihrer äußerlichen Verwandtschaft als Werke gleicher Art und Zielrichtung betrachtet werden. Das ist aber, besonders bezogen auf das Markus-Evangelium, nicht unproblematisch. Denn Markus hat nicht die gleichen Interessen und Schwerpunkte wie Matthäus und wie Lukas.

Eine weitere Problematik liegt darin, dass in den meisten Ausgaben des Neuen Testaments die Texte durch Überschriften eingeteilt sind, die nicht zum ursprünglichen Text gehören, sondern durch die Herausgebenden eingefügt wurden . So liest man z.B. in der Einheitsübersetzung – wegen ihrer Verbreitung beziehe ich mich vor allem darauf – beim Markus-Evangelium noch über der eigenen Überschrift des Markus die hinzugefügten Worte: „Die Vorbereitung des Wirkens Jesu“, und darunter: „Johannes der Täufer“. Dadurch geht verloren, dass die Buchüberschrift im Markustext selbst steht: “Anfang (und Grundriss) des Evangeliums Jesu Christi“ (Mk 1,1). Ein anderes Beispiel: In unübertrefflicher Weise ist im Markus-Evangelium mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt: Gottes Königsherrschaft ist gekommen. Bekehrt euch: Glaubt dem Evangelium!“ (Mk 1,14f) die Zusammenfassung der Botschaft Jesu formuliert. Nun setzt die Einheitsübersetzung darüber die Worte: „Erstes Auftreten in Galiläa“. Unter dieser Überschrift erscheint die an hervorragender Stelle im Buch des Markus gesetzte grundsätzliche Aussage als eine Auskunft nur über die Anfänge der Predigttätigkeit Jesu. -

Es kann an dieser Stelle nicht weiter auf die Problematik der Setzung von Überschriften eingegangen werden. Soll die Überschrift ein Stichwort hervorheben? Soll sie den Hauptinhalt bezeichnen? Soll sie ein besonderes Wort, einen besonderen Satz in der Formulierung aus dem Text voransetzen und damit als den wichtigsten des Zusammenhangs unterstreichen? Nur darauf soll hier hingewiesen werden, wie sehr das Setzen einer Überschrift den jeweiligen Text zu interpretieren vermag. Jedenfalls macht es gewiss einen Unterschied, ob über Mk 2,18-22 zu lesen ist: „Die Frage nach dem Fasten“ - so in der Einheitsübersetzung – oder: „Der Bräutigam ist bei ihnen“ – so im Messlektionar. Es sei noch ein Beispiel angeführt. Es ist nicht gleichgültig, ob über Mk 12,1-12 steht: „Das Gleichnis von den bösen Winzern“ oder aber – weil Jesus damit eine Antwort gibt auf die Frage der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten, wer ihm die Vollmacht gegeben habe - eine Überschrift wie etwa: „Das Gleichnis vom geliebten Sohn“.

Zum Charakter und Aufbau des Markus-Evangeliums

Die Eigenart, der Aufbau und die Gliederung des Markus-Evangeliums erscheinen bisher als ein ungelöstes Problem. Über die gegenwärtige Forschungslage zum Charakter des Buches unterrichtet ausführlich und gründlich DETLEV DORMEYER, Das Markusevangelium, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. In einer Vorabeit dazu – „Evangelium als literarische und theologische Gattung“ – hat er schon 1989 „hauptsächlich am Markus-Evangelium … aufgezeigt, wie die Gattungsdiskussion von der Antike bis in die Gegenwart verlief.“ Die These, mit der DORMEYER im Jahr 2005 seine Forschungsergebnisse zusammenfasst, lautet: „Das Mk-Ev ist eine Anti-Biographie der philosophischen Herrscherbiographien.“ (S. 9 und 230)

Die vorherrschende Übereinkunft, das Markus-Evangelium als eine wie auch immer charakterisierte Biographie zu betrachten, hat aber - soviel Biographisches auch im Buch enthalten sein mag - bisher in Hinsicht auf den Aufbau dieses Buches noch nicht zu einer zufriedenstellenden Erkenntnis geführt. Vermutlich hat vielmehr eine solche Einschätzung die Erkenntnis des Aufbaus erschwert oder sogar unmöglich gemacht.

Sicherlich ist auch das Urteil von RUDOLF BULTMANN, dieses so bedeutenden Exegeten, noch bis in unsere Zeit wirksam. Er schreibt, es „konnte die Stoffauswahl des Mk nicht durch die mythische Grundlage des Kerygma bestimmt sein. Der chronologische Aufriß des Ganzen, d.h. die Darstellung von Taufe, erstem Auftreten und Wirksamkeit bis zur Reise nach Jerusalem und zum Kreuzestode war das Gegebene... Nur das will ich hervorheben, daß die Anordnung oft durch zufällige Gründe bestimmt ist“, und Bultmann kommt zu dem Schluss: „Mk ist eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden, daß er eine Gliederung wagen könnte“(1).

Etwas zurückhaltender urteilt INGO BROER in seiner „Einleitung in das Neue Testament“ (2) über die Gliederung des Evangeliums: Markus „hat die Gliederungssignale offensichtlich nicht so gesetzt, dass sie uns Heutigen noch klar erkennbar wären. Darauf weist nicht nur die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hin - in der Literatur sind zweigliedrige, dreigliedrige und zahlreiche mehrgliedrige Aufteilungen vorgeschlagen worden, die bis zu sieben Abschnitten reichen, und die Einschnitte werden teilweise an ganz unterschiedlichen Stellen vorgenommen -, sondern auch der Umstand, dass der Übergang selbst an den Stellen sehr eng ist, wo häufig Unterteilungen vorgenommen werden, so z.B. vor 1,14.16 oder 6,29. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass zahlreiche Gliederungsversuche einen Einschnitt vor 1,14 finden und zahlreiche andere einen solchen erst vor 1,16. Diese Unsicherheit dürfte darin ihren Grund haben, dass das Gliederungsprinzip im Inhalt gefunden wird, ohne dass sich ein deutliches formales Signal finden lässt. Man kann sich insofern über die unterschiedlichen Gliederungsversuche nicht wundern.“

Und BROER schreibt weiter: „Die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hat freilich nicht nur in der markinischen Eigenart des Evangeliums mit seinen fließenden Übergängen ihren Grund, sondern auch in dem zu Recht angemahnten Fehlen einer einheitlichen Kriteriologie der Forschung. Denn als Kriterium für die Gliederung hat man so unterschiedliche Aspekte wie die geographische Aufteilung des Evangeliums, die Anlehnung an den jüdischen Festkalender oder das antike Drama, den Inhalt, die Sammelberichte, die Zeitebenen oder auch die Stichometrie benutzt.“

Ein klarer Aufbau

Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Buch bin ich nun dazu gekommen, im Markus-Evangelium einen einfachen sachlichen Aufbau zu erkennen. Nach meiner Auffassung umfasst das Markus-Evangelium nach der Überschrift und der Einleitung (1,1-15) in zwei Hauptteilen (1,16 – 6,6a und 6,6b - 10,52) fünf Lehreinheiten (1,16 – 3,6; 3,7 – 4,34; 4,35 – 6,6a; 6,6b – 8,26; 8,27 – 10,52), dann einen dritten Hauptteil, Jesus in Jerusalem, (11,1 – 15,3) und schließlich einen Ausblick (15,40 – 16,8). Alle drei Hauptteile sind von annähernd gleichem Umfang. Jede der fünf Lehreinheiten beginnt mit den Jüngern und schließt mit einem besonders bemerkenswerten Satz. (3)

Unterstützt wird die von mir entdeckte Gliederung durch eine auffällige Zahlensymbolik. Die Fünfzahl der Lehreinheiten ist bemerkenswert. Sie erinnert, ebenso wie die fünf Brote bei der ersten wunderbaren Speisung und die fünftausend, die die Brote aßen, an die fünf Bücher Mose, den Pentateuch. Auf diese besondere Weise zeigt Markus noch einmal: Jesus ist als ein neuer Mose gekommen und bringt das neue Gesetz, das den fünf Büchern Mose, der Thora entspricht. Bekanntlich enthält das Matthäus-Evangelium deutlich erkennbar fünf Reden Jesu. Das Markus-Evangelium verwendet, meines Erachtens ganz bewußt, noch auf eine ganz andere Weise die Zahl fünf: Das Wort „Lehre“ (didache) kommt im Buch fünfmal vor. Die meisten Übersetzungen lassen diese Symbolik nicht erkennen, da sie den Sprachgebrauch des Markus nicht genau genug beachten und das Wort „didache“ nicht an allen fünf Stellen mit dem gleichen Wort „Lehre“ übersetzen, sondern auch mit „Belehrung“ oder „er lehrte sie“. Auch diese Beobachtung veranlasste mich, das Markus-Evangelium neu zu übersetzen.

Vielleicht wird mancher Leserin und manchem Leser eine solche Deutung von der Häufigkeit des Wortgebrauchs zu fremd und zu gewagt erscheinen. Aber mir scheint es nicht gut möglich, die bedeutsame Verwendung von Zahlen im Markus-Evangelium zu übersehen oder gar zu leugnen. Denn auch das Wort „Meister“ oder treffender „Lehrmeister“ (didaskalos) kommt in bedeutsamer Zahl vor, nämlich zwölfmal, und es wird nur von Jesus gebraucht. Das Verb „lehren“ (didaskein) wird im Buch siebzehnmal verwendet. Auch diese Zahl scheint mir eine besondere Aussage zu haben. Sie weist hin auf die Gesamtzahl der Völker. Jedenfalls findet sich in der gleichen Bedeutung im Johannes-Evangelium die Zahl der Fische im Netz 153, d.h. die Summenzahl von 17 (Jo 21,11); in der Apostelgeschichte des Lukas werden beim Pfingstereignis 17 Namen von Völkern genannt (Apg. 2, 9f). Ist einmal die Wahrnehmung darauf gerichtet, dann sind solche Zahlen für aufmerksam Lesende leicht festzustellen und auch zu deuten. (5)

Die prophetische Tat Jesu im Tempel

Um mein Interesse am Markus-Evangelium und meine jahrzehntelange Beschäftigung damit zu erklären, schildere ich kurz, wie ich dazu kam, mich diesem Buch zuzuwenden, das mir mittlerweile zum wichtigsten Buch geworden ist (www.das-wichtigste-buch.de). Auf diese Weise kann ich anschaulich machen, worum es mir geht, was meine Fragestellung ist.

Damals, Ende der sechziger Jahre, wurde in der Öffentlichkeit die Frage diskutiert, ob und inwieweit Gewalt gegen Sachen und Personen erlaubt sei. Ich wollte wissen, ob darüber in der Bibel etwas zu finden sei, genauer gesagt, ob man aus den Evangelien erfahren könne, wie Jesus sich zur Gewalt stellt. Mit diesem Interesse richtete ich mein Augenmerk auf die so genannte Tempelreinigung. Ich wollte wissen, wie sie sich ereignet hatte. Und weil das Markus-Evangelium als ältestes Zeugnis für das Leben Jesu gilt, suchte ich und erwartete ich dort eine anschauliche Schilderung seiner erstaunlichen Tat zu finden.

Aber ich wurde enttäuscht. Ich fand keinen mehr oder weniger ausführlichen Bericht über diese bedeutungsvolle Begebenheit, sondern in vier kurzen Sätzen nur eine Skizze (Mk 11,15-17). Besonders fiel mir auf: Anstelle einer Wendung wie etwa: „Voll Zorn rief Jesus aus…“ findet sich hier: „Und er lehrte sie und sprach:“, und statt spontaner Worte der Entrüstung und Empörung oder der Trauer findet sich hier ein doppeltes Zitat, das aus Worten der zwei großen Propheten Jesaja und Jeremia zusammengesetzt ist: „Steht nicht geschrieben: Mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Aber ihr habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“

Je länger ich nun den Text betrachtete, desto mehr musste ich einsehen: Markus ist offenbar an einer anschaulichen Beschreibung dieses erstaunlichen Geschehens gar nicht interessiert. Man kann sich aufgrund seiner Worte kein Bild von dem Vorgang machen, und vor allem bekam ich an dieser Stelle auch keine Antwort auf meine Frage nach der Haltung Jesu zur Gewalt. Die ist an anderer Stelle ausdrücklich zu finden. Mein ursprüngliches Interesse, durch den Markus-Text ein historisches Bild von der Gestalt Jesu und seinem Verhalten zu gewinnen – ein Interesse, das ich vermutlich mit vielen, die in den Evangelien lesen und sie studieren, teile - wurde nicht so befriedigt, wie ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte. Im Gegenteil: Ich musste einsehen, dass eine solche Schilderung des Verhaltens Jesu für das Markus-Evangelium an dieser Stelle nicht wichtig war.

Daraufhin änderte ich meine Fragestellung. Ich verzichtete auf meine ursprüngliche Frage, wie ich mir das Ereignis im Leben Jesu vorzustellen habe. Stattdessen fragte ich von nun an danach, was Markus mit dem Erzählten sagen wolle. Heute formuliere ich das so: Lieber Markus: Wenn du nicht sagen willst, was ich wissen will, dann möchte ich wissen, was du sagen willst.

Mir wurde die Bedeutung dieser Fragestellung besonders bewusst, als ich las, was INGO BROER in seiner schon genannten Einleitung in das Neue Testament am Schluss seiner Darlegungen über das Markus-Evangelium selbstkritisch schreibt (S. 96): "Bei der Behandlung des Markusevangeliums war deutlich zu spüren, dass nicht eigentlich das Werk selbst unsere Überlegungen geleitet hat, sondern die Traditionen der Alten Kirche über das Werk. Unsere Arbeit bestand zu einem großen Teil in dem Versuch, diese Nachrichten aus der Alten Kirche zu überprüfen“, und er beklagt, dass die Ergebnisse „nicht besonders positiv waren.“ BROER begründet sein Vorgehen: „Diese Art, sich dem Einleitungsstoff in den Evangelien zu nähern, wurde nicht nur deswegen gewählt, weil sie in der Einleitungswissenschaft nun einmal traditionell ist und nicht alles Traditionelle von vornherein abzulehnen ist, sondern für diese Art der Behandlung spricht die Tatsache, dass außer den Nachrichten der Alten Kirche kaum Material vorhanden ist, das weiteren Aufschluss in den Fragen gewährt, die die Einleitungs-wissenschaft zu stellen hat.“ Und er meint, es müsse aber „jetzt, also nach der Behandlung der das älteste Evangelium betreffenden Probleme auf die herkömmliche Art, die Frage gestellt werden, ob wir aus dieser Art der Behandlung für das Verständnis des Evangeliums den größtmöglichen Nutzen gezogen haben.“ Selbstkritisch fragt sich BROER: „Waren wir nicht weitgehend mit Fragen beschäftigt, die wir von selbst so nicht oder überhaupt nicht gestellt hätten?“ Es sei zwar „noch kein Argument, diese Fragen aufzugeben, wenn uns die Nachrichten aus der Tradition diese wirklich stellen“, aber die Frage sei doch: „Erzielt man angesichts der Diskussion der von der Tradition aufgegebenen Fragen wirklich den größtmöglichen Erkenntnisfortschritt auf das Evangelium hin oder werden hier überwiegend Fragen traktiert, die zum besseren Verständnis des Evangeliums keinen großen Beitrag leisten?“

Und er leitet dann über zum nächsten Kapitel seines Buches: „Aus diesem Grunde machen wir beim nun zu behandelnden Matthäusevangelium den Versuch, die von der Tradition vorgegebenen Fragen jedenfalls nicht an den Anfang zu stellen, sondern beginnen damit, was sich aus der Lektüre des Evangeliums selbst noch für dessen Verständnis erschließen lässt.“ (5)

Genau das: herauszubekommen, was sich aus der Lektüre des Evangelien-Textes selbst für sein Verständnis erschließen lässt, ist seit fast vierzig Jahren meine Fragestellung bei der Beschäftigung mit dem Markus-Evangelium.

Eine Weisheit meines Lehrers ALOIS THEISSEN, jahrzehntelang Professor für die Exegese des Alten und Neuen Testaments am Priesterseminar der Erzdiözese Köln, kommt mir in den Sinn. THEISSEN, liebevoll Habakuk genannt, pflegte seinen Schülern zu empfehlen: „Nehmen Sie das Buch unter den Arm und gehen Sie damit in den Wald!“ Als Methode, mit den Heiligen Schriften umzugehen, riet er dazu, nicht zuerst die Kommentare zu studieren, sondern zuerst und vor allem sich um einen unmittelbaren Zugang zu der betreffenden Schrift zu bemühen. Natürlich bedeutete das nicht eine Geringschätzung von Kommentaren, wohl aber die Herausforderung zu eigener Bemühung um Verständnis des Textes.

Ein Hinweis auf die Art und Weise, mit solchen Schwierigkeiten umzugehen, ist für mich das Bild, das hinter dem Altar der Kapelle im Katholisch-Sozialen Institut in Bad Honnef zu sehen ist. Da sind auf dunklem Hintergrund fünfzehn goldene Kronen in grünen Feldern zu sehen, darüber ruht ein weißes Lamm auf goldenem Grund. Was hat sich der Künstler dabei gedacht? Immer wieder habe ich mir das Bild angeschaut und mich gefragt, was die goldenen Kronen in den grünen Feldern bedeuten sollen, und vor allem, warum es genau fünfzehn sind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Zahl zufällig gewählt sein könnte. Nach langer Zeit geduldigen Hinsehens fand ich endlich die Lösung. (6) Dieses Bild ist für mich ein Gleichnis, das mich den Umgang mit dem Markus-Evangelium lehrt. Es lehrt mich, sehr aufmerksam zu lesen, beim Nachdenken beharrlich zu sein und bei Schwierigkeiten nicht vorschnell aufzugeben. Auch hier steckt ein zunächst verborgener Sinn dahinter. Davon war ich überzeugt. Und tatsächlich gab sich mir der zunächst verborgene Sinn schließlich nach beharrlicher Suche zu erkennen.

Ausführliche Darstellung des Aufbaus des Markus-Evangeliums

Immer deutlicher zeigte sich mir der meisterhafte Aufbau des Markus-Evangeliums als ein Glaubensbuch. Zu Themen von grundsätzlicher Bedeutung stellt Markus in großer Einfachheit und auf überzeugende Weise fünf Lehreinheiten zusammen, in die er Überlieferungen verschiedenster Art aufnimmt:

Erster Hauptteil: Jesus in Galiläa

1. Lehreinheit. Die Neue Lehre
2. Lehreinheit: Das Wort
3. Lehreinheit: Der Glaube

Zweiter Hauptteil: Jesus lehrt seine Jünger

4. Lehreinheit: Das Brot
5. Lehreinheit: Der Weg

Dritter Hauptteil: Jesus in Jerusalem

Die drei Lehreinheiten des ersten Hauptteils „Jesus in Galiläa“ handeln also von der neuen Lehre, vom Wort Gottes und vom Glauben.

Die erste Lehreinheit antwortet auf die wichtige Frage, was durch Jesus Neues in die Welt gekommen ist: Er ist in die Welt gekommen und ist selber in seiner Person die Neue Lehre. In diesem Sinn erweist sich die Neue Lehre in der befreienden Kraft, die Kranke und Besessene zu heilen vermag, und in der Vollmacht, Sünden schon auf Erden zu vergeben. Jesus, der Sohn Gottes, bringt als die Neue Lehre Gottes Liebe und Erbarmen. Markus betont, dass Jesus sich der Sünder annimmt, und sogar Levi, den Zöllner, also jemanden, der aufgrund seines Berufes als ein typischen Sünder angesehen wurde, zu seinem Jünger beruft. Markus zitiert Jesus mit dem Wort: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ Im Zusammenhang mit dieser Neuen Lehre von Heilung und Vergebung verstehe ich die sich daran anschließende sogenannte Fastenfrage. Nach meiner Lesart charakterisiert Markus hier, indem er ein Wort zitiert, mit dem Jesus auf eine Frage nach dem Fasten geantwortet hat, die Bedeutung der Gegenwart Jesu und seiner Lehre. Er bezeichnet sie als eine Zeit der Freude, die mit einer Hochzeit zu vergleichen ist. Das lehrt das Wort vom Bräutigam, in dessen Anwesenheit das Fasten unpassend ist. Das ist Neues und sprengt Altes. Das relativiert die absolute Geltung des Gesetzes, auch des Sabbatgebotes, durch die größere Einsicht der Liebe. Aber diejenigen, die sich als Hüter des Gesetzes verstehen, können das nicht ertragen. -

Die zweite Lehreinheit handelt vom Wort Gottes, von der Berufung und Konstituierung der Zwölf mit dem Auftrag zur Verkündigung des Wortes, von den Hörerinnen und Hörern des Wortes und ihren so verschiedenen Reaktionen auf das Wort, und sie handelt von der Eigenart des Wortes Gottes als Gleichnisrede. Als überaus wichtig erscheint mir auch der Schluss dieser Lehreinheit, dass nämlich die Erklärung der Gleichnisse im Kreis derer geschieht, die um Jesus versammelt sind, wenn sie unter sich sind. Hier ist die Bedeutung der Kirche und ihrer Versammlungen angesprochen.

Die dritte Lehreinheit schließlich handelt vom Glauben. Den Jüngern im Boot muss Jesus nach dem Sturm sagen: „Habt ihr noch keinen Glauben?“ Der besessene Mann von Gerasa und der Synagogenvorsteher nähern sich Jesus auf sehr verschiedene Weise in der Erwartung, Befreiung und Rettung zu erfahren für sich bzw. die Tochter. Der kranken Frau, die das Gewand Jesu berührt im Glauben und in der Hoffnung, durch den Kontakt mit ihm gesund zu werden, sagt Jesus: „Dein Glaube hat dich gerettet.“ Die Lehreinheit schließt mit dem Problem, dass es für den Glauben hinderlich sein kann, wenn Menschen meinen, genau zu kennen und Bescheid zu wissen. Jesus „wunderte sich über ihren Unglauben“ (Mk 6,6).

Die zwei Lehreinheiten des zweiten Hauptteils handeln vom „Brot“ und vom „Weg“. Die Überschriften könnte man gut mit Worten aus dem Johannes-Evangelium geben. Über der ersten Lehreinheit darin – der vierten im Buch - stünde dann: „Ich bin das Brot des Lebens“, über der zweiten, der fünften im Buch, stünde: „Ich bin der Weg“. Für diese beiden Grundthemen der christlichen Lehre vom Geheimnis des Glaubens und von der Kreuzesnachfolge sollen den Lesenden die Augen geöffnet werden. Darauf verweisen die beiden Blindenheilungen: die Heilung des Blinden von Bethsaida und die des Bartimäus. Der ganze zweite Hauptteil steht unter dem Wort: „Ich bin das Licht der Welt“.

Im dritten Hauptteil, „Jesus in Jerusalem“, ist die Strukturierung des Markus-Evangeliums so offenkundig, dass darüber kein Zweifel bestehen kann. Das braucht hier nicht dargestellt zu werden Leider wird aber diese offenkundige Texteinteilung dennoch nicht immer genügend wahrgenommen. Zum Beispiel schreibt die Einheitsübersetzung (Mk 12,41): „Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß…“, und verdeckt durch die willkürliche Einfügung des einen Wortes „einmal“ die Bedeutung dieser Geschichte von der Gabe der armen Witwe, mit der nämlich Markus die Lehre Jesu am dritten Tag im Tempel beschließt: Mit diesem vorbildlichen Beispiel einer Frau, die im Vertrauen auf Gott alles dahingibt, was sie besitzt, ihr ganzes Leben.

An dieser Stelle sei mir im Hinblick auf die dargestellte Gliederung der ersten zwei Drittel des Markus-Buches die Bemerkung erlaubt: Eigentlich müsste für jeden, der sich mit dem Markus-Evangelium befasst, die Vermutung nahe liegen, dass ein Buch, das im letzten Drittel so überlegt gegliedert ist, auch in den vorangehenden Teilen eine wohl überlegte Gliederung aufweisen müsse.

Als ein Gleichnis für diesen genauen, wohlüberlegten Aufbau des Markus-Evangeliums, der offenbar – wenn man der Darstellung der Forschungslage durch Ingo BROER Glauben schenken darf - bis jetzt so nicht wahrgenommen wurde, erscheint mir ein besonderes Bild, ein interaktives Bild, das ich in "Interactive Pictures", Benedikt Taschen Verlag, Köln, fand (7). Dieses Bild zeigt auf der Bildfläche sechs Radioteleskope. Um mehr zu sehen von dem, was das Bild hergibt, muss man auf eine besondere Weise hinschauen: "Nähern Sie sich der Abbildung, bis sie unscharf wird und Ihre Augen höchstens zehn Zentimeter davon entfernt sind. Wenn Sie die Motive nun weiterhin entspannt betrachten bzw. durch sie gewissermaßen hindurchstarren, scheinen sie sich nach einiger Zeit zu verdoppeln. Bewegen Sie nun die Motive langsam von Ihren Augen weg, ohne die entspannte Stellung der Augen zu verändern - und der dreidimensionale Effekt stellt sich ein". Folgt man dieser Anweisung, dann erkennt man auf einmal sieben Radioteleskope in einem Bildraum! Das heißt also: Wer das Bild mit der richtigen Bemühung und Einstellung betrachtet, nimmt eine weitere Dimension wahr – nicht mehr nur Fläche, sondern Raum! - und entdeckt, was er vorher nicht zu erkennen vermochte.

So ist es mir mit dem Markus-Evangelium ergangen. Ich denke, so wird es allen denjenigen gehen, die bereit sind, sich auf den Text des Markus-Evangeliums einzulassen nicht voreingenommen durch herkömmliche Sichtweise, vor allem nicht in der Erwartung, darin eine Biographie gleich welcher Art zu sehen. Wer sich beim Lesen dieses Buches so einstellt, wird darin eine einfache, in ihrer Themenwahl und ihrem Aufbau überzeugende Gliederung erkennen können.

Grundriss der Glaubensverkündigung

Je mehr ich diesen kunstvollen Aufbau des Markus-Evangeliums erkannte, den ich oben dargestellt habe, desto mehr zeigte sich mir auch die Bedeutsamkeit dieses Buches. Es ist in einer neuen, tieferen Weise ein Glaubensbuch, das am ehesten mit einem Katechismus oder Glaubensbuch unserer Zeit zu vergleichen ist.

Zwar fehlt bei Markus Vieles, was, Gott sei Dank, durch Matthäus und Lukas überliefert wurde. Wer wollte auf die wunderbaren Gleichnisse Jesu verzichten? Von den schönsten Gleichnissen ist kein einziges bei Markus zu finden. Wer auf die Bergpredigt? Wer auf die Kindheitsgeschichten? Ich bin überzeugt, dass Markus vieles davon gekannt hat. Aber alle diese Überlieferungen in sein Buch aufzunehmen, hätte den Rahmen seines Werkes gesprengt.

Er hat uns sein Werk als „Grundriss der Heilsverkündigung“ hinterlassen. Die ersten Worte des Buches, die die Überschrift bilden, immer wiedergegeben mit „Anfang des Evangeliums“, lassen sich mit gutem Grund so übersetzen.

So kurz das Markus-Evangelium im Vergleich mit den anderen auch erscheinen mag, so finden sich doch in diesem einen Buch alle Themen der christlichen Verkündigung. HEINZ SCHÜRMANN (8) hat auf Grund der synoptischen Überlieferung 25 Hauptthemen der Verkündigung Jesu herausgefunden. Für alle diese Themen - ausser einem einzigen, das zu seiner und unserer Zeit keine Bedeutung mehr hatte und hat - findet er Beispiele auch aus dem Markus-Evangelium

Damit erweist sich dieses so gut lesbare und anschauliche Buch als eine Kurzdarstellung des christlichen Glaubens. Alles Wesentliche kommt zur Sprache, mit der Person Jesu verbunden, verlässlich und in meisterhafter Ordnung dargeboten. Als erster „Grundriss der christlichen Heilsverkündigung“, erster in der bald zweitausend Jahre langen Geschichte der Christenheit, zugleich als ältestes Jesusbuch und Glaubensbuch ist es bis heute unübertroffen und unersetzlich.


Anmerkungen

(1) Die Geschichte der synoptischen Tradition, 5. Auflage 1961, 374f.

(2) Echter Verlag 1998, Bd.1, 73; Studienausgabe 2006.

(3) In der Übersicht und der ausführlichen Gliederung meines Buches (Das älteste Jesusbuch. Das Markusevangelium aus dem Urtext neu übersetzt und erläutert von Hans Thüsing, Stuttgart 2008) erscheinen die Abschnitte 1,16 – 45 und 6,1 – 6 noch gesondert, um die kunstvolle Rahmung des ersten Hauptteils „Jesus in Galiläa“ durch die Abschnitte „Ein Tag im Leben Jesu in Kapharnaum“ zu Beginn und „Jesus in seiner Heimat“ zum Abschluss deutlich zu machen. Aber seitdem ziehe ich es vor, auch in der Gliederung zum Ausdruck zu bringen, dass diese Abschnitte zur ersten bzw. dritten Lehreinheit gehören.

(4) Einen Einblick in die weithin unbekannte, viel weitergehende „Symbolik der biblischen Zahlen und Zeiten“ gibt Hans A. Hutmacher in seinem gleichnamigen Buch, das 1993 im Verlag Ferdinand Schöningh in Paderborn erschienen ist.

(5) Broer, Einleitung, 96.

(6) Die möchte ich hier, um meinen Leserinnen und Lesern nicht die Freude am eigenen Suchen und Finden zu nehmen, nicht verraten. Das Bild und seine Erklärung sind zu finden unter www.das-jesusbuch.de, Brief 1.

(7) siehe www.das-jesusbuch.de, Brief 2.

(8) Worte des Herrn, Jesu Botschaft vom Königtum Gottes, zuerst erschienen im Benno-Verlag, Leipzig [1945] 1955).